Donnerstag, 5. April 2012

Vorwort


Hey Leute,
Ich hab mich entschieden, das erste Kapitel meines Buches online zu veröffentlichen und das Internet quasi als vorläufige Werbeplattform zu verwenden, bevor ich eine Rückmeldung von den Verlagen erhalte, an die ich das Manuskript geschickt habe.

Wenns euch gefällt, wäre es nett, wenn ihr den Link zu diesem Blog auf eurer Facebookseite oder sonst wo veröffentlicht. Die besten Bücher sollen schließlich nicht von den wenigsten Menschen gelesen werden. Feedback wäre auch nicht schlecht. Am Besten gleich hier auf dem Blog oder auf meiner Facebookseite. Noch besser wäre beides! Danke im voraus.

Das Buch ist noch nicht ganz fertig, es finden also noch Änderungen statt.


Also viel Spaß damit!



Inhaltsverzeichnis













                       Hyperborea –


                 Die Stadt der Zukunft




                          ein utopischer Roman von Mark Bosch

















Glück ist kein erstrebenswertes Ziel im Leben.


































Glück ist eine notwendige Etappe auf dem Weg zum Ziel im Leben.



























Inhaltsverzeichnis:


Kapitel 1 - Jenseits der Utopie


Kapitel 1.1 – In Medias Res: Besuch eines alten Bekannten
Kapitel 1.2 – Blutmusik
Kapitel 1.3 – Höllenspektakel/ Vorhof zur Hölle
Kapitel 1.4 – Historischer und politischer Exkurs
Kapitel 1.5 – Himmlische Wende
Kapitel 1.6 – Wiedergeburt


Kapitel 2 - Wir Hyperboräer


Kapitel 2.1 – Alive in Wonderland
Kapitel 2.2 – Back to school
Kapitel 2.3 – Die Stadt der Wunder


Kapitel 3 - Der Gottesstaat


Kapitel 3.1 – Zukunftspläne zwischen Palmen und Regenbögen
Kapitel 3.2 – Begrüßung des Triumvirs
Kapitel 3.3 – Der Satyr in meiner Wohnung
Kapitel 3.4 – Dei Consentes
Kapitel 3.5 – Anima Vita
Kapitel 3.6 – Geänge im Weltraum
Kapitel 3.7 – Sünden-Gefallen
Kapitel 3.8 – Die Nymphe
Kapitel 3.9 – Agon: Interstellare Konflikte


Kapitel 4 – Et in Arcadia ego


Kapitel 4.1 – Zeitraffer
Kapitel 4.2 – SehnSucht
Kapitel 4.3 – BeGierde
Kapitel 4.4 – LeidenSchaft
Kapitel 4.5 – Reise in das äußerste Innere
Kapitel 4.6 – Kurzer Prozess
Kapitel 4.7 – Werde, der du bist

1.1 - In Medias Res: Besuch eines alten Bekannten



Kapitel 1 – Jenseits der Utopie


1.1– In Medias Res: Besuch eines alten Bekannten

Schwache Lichtwellen strahlten durch meine Augenlider, als ich geweckt wurde. Noch halb im Tiefschlaf nahm ich die Konturen eines silbernen Kreuzes wahr. Es verdeckte für einen winzigen Moment die spärlichen Lichtstrahlen einer einsamen Glühbirne, die an einer von Asbest verseuchten Decke hing. Es hatte fast schon etwas Bemitleidenswertes, wie sie verzweifelt versuchte den Raum zu erhellen, der selbst einen fast noch jämmerlicheren Eindruck machte und schon im Begriff war vollkommen in sich zusammen zu fallen. Der Raum enthielt keine Möbel, nur zwei alte Matratzen, und die Tapeten fielen von den spröden Wänden ab. Das lag daran, dass das Haus, in dem dieser Raum sich befand, bis vor ein paar Tagen lediglich von Schimmel und von Termiten bevölkert wurde, die sich in obsessiver Zusammenarbeit durch die Überreste des Wandinnenlebens fraßen. Ein verlassenes Haus in einer verlassenen Gegend in einer verlassenen Welt in der verlassenen Unendlichkeit des Universums.

Das spärlich funkelnde Kreuz wurde kurz vor der Kollision mit meiner Nasenspitze von den Gliedern einer ebenfalls silbernen Königskette, an welcher es hing, aufgehalten, und gab deshalb ein leises Klirren von sich. Der erste Reiz, den ich in vollständiger Geistesgegenwärtigkeit wahrnahm, als ich aufwachte. Obwohl das Geräusch nicht lauter als das Zirpen einer Grille war, war es in seiner symbolischen Dimension doch eher mit dem Peitschen von Kanonensalven zu vergleichen – ein Startschuss sozusagen, im Angesicht dessen, was mich erwartete. Das silberne Kreuz gehörte meinem Bruder, der es selbst beim Schlafen und Duschen trug. Sein Oberkörper schwebte parallel über meinem Körper, als er mich weckte. Ich fühlte mich wie ein Leiche in einem Sperrholzsarg drei Meter unter der Erde. Das Kreuz pendelte in einer hypnotischen Kreisbewegung über meinem Gesicht. Mein Bruder machte einen aufgebrachten, aber gleichzeitig entschlossenen Eindruck. Sein Ausdruck machte mir schon klar was geschehen ist. Er sagte atemlos: „Sie kommen.“ Diese Aussage hatte mehr als genug Informationsgehalt. Und leider viel zu viel Wahrheitsgehalt. Sofort wurde ich aus dem Nebel der Schlaftrunkenheit geholt. Ein Plan zeichnete sich in meinem Kopf ab. Meine Sinne schärften sich und die trommelnden Befehle meines Gehirns beförderten meinen Körper in Aktionsbereitschaft.

Er lehnte an der Wand und spähte heimlich aus dem Fenster. Er hielt eine Freedom-7 in der rechten Hand. Es war ein limitiertes Sammlerstück und ein Prachtexemplar von einem vollautomatischen Sturmgewehr aus der Zeit der europäischen Revolution und noch vor der Kette mit dem Kreuz aus purem Silber sein wertvollster Besitz, sowohl materiell als auch ideell. Ein Symbol der Revolution. Ein Symbol für der Widerstand. Ein Symbol der Freiheit und der Hoffnung. In dieser Momentaufnahme wurde dieser Waffe von ihm zwar noch keine Beachtung geschenkt, jedoch war er zu jeder Zeit bereit das Schmuckstück zu entjungfern, und mit dem Blut des Feindes einzuweihen.

Wir hatten die hyperboräische Grenze fast erreicht und das ohne jeglichen Konflikt. Und dann Nanometer vor dem Ziel die Entzauberung. Die Ernüchterung war wie ein Schlag ins Gesicht, der mich aus meinem Wunschtraum schleuderte. Ich war es Leid, jeden Augenblick meines Lebens in der ständigen Ungewissheit zu leben, möglicherweise im Schlaf erdrosselt zu werden oder unterwegs von einem Scharfschützen erschossen zu werden. Das Paradies ist zum greifen nah. Das Verlangen danach war unbeschreiblich. Der Entzug der Sehnsucht, konnte nur noch der endliche Einzug in dieses Paradies bewerkstelligen. Mein Vater erzählte mir und meinem Bruder in unserer Kindheit oft Geschichten darüber. Märchen und Mythen. Er beschönigte sein Halbwissen über diesen Staat immer mit bildhaften Metaphern und übertriebenen fiktiven Alltagsszenarien innerhalb des vorgestellten, öffentlichen, hyperboräischen Lebens. Er schuf eine Wunschvorstellung, die wahrscheinlich so greifbar war wie Wasser, doch die Geschichten die uns erzählt wurden, machten uns Freude. Und Hoffnung. Es waren die schönsten Erinnerungen, aus meiner Kindheit. Tief in meinen Gedankengängen verborgene Schätze, die jedoch fast schon von dem ganzen Leid, das mir widerfahren ist, in die Dunkelheit gedrängt wurden. Wenn ich jedoch nur lang genug in meinen Erinnerungen grub, dann war ich auch erfolgreich und wurde belohnt. In diesem dunklen Zeitalter der Grausamkeit und Tyrannei war dies fast das Einzige, was mich aufheiterte.

Im Grunde wusste niemand, wie es im Inneren von Hyperborea aussah, bis auf die Hyperboräer selbst natürlich. Sie mystifizierten ihre eigene Kultur gegenüber dem Ausland ins Bodenlose und gleichzeitig in den Himmel empor. Natürlich taten das die meisten Kulturkreise in dieser Zeit, die Hyperboräer jedoch schafften es, diesen Mythos über sich selbst zu perfektionieren. Sie schufen sozusagen einen dritten Pol auf der Erde, der die Menschen, die sich von den Legenden die dieses Utopia schuf, und vor allem von den Legenden, die dieses Utopia schufen, verzaubern ließen, und diese fast schon magnetisch anzog. Der Menschenschlag, der immigrierte reichte von armen Niemanden, die sich ein neues Leben erhofften, bis zu weltweit bekannten Künstlern und Wissenschaftlern, die ihr Schaffen vertiefen wollten.

Authentische Quellen gab es kaum und wenn es wirklich welche geben sollte, würde sowieso kein Normalbürger im russischen Reich Zugriff darauf besitzen, und schon gar nicht ein subversiver „Terrorist“, wie das Dessens-Regime mich geißelte. Internet und World Wide Web wurden von dem kolossalen Absturz der Globalisierung und den Vereinten Nationen mit in die Tiefe der historischen Fußnoten gerissen, als die Traumblase einer kosmopolitischen Welt nach dem dritten Weltkrieg endgültig zerplatzte. Jeder andere Staat baute sich zwar, als der Frieden mehr oder weniger wieder einkehrte, ein neues, nationales Intranet, eine Art Ersatzinternet innerhalb der Kulturgrenzen, auf, das russische Reich war jedoch die einzige Ausnahme, die dies nicht tat. Die Dessens, das aktuelle absolutistische und autoritäre Herrschergeschlecht im russischen Reich von französischer Herkunft, und andere Oligarchen aus aller Welt, die Teil der zum Leben erweckten, politischen Inkarnation des Höllenfeuers werden wollten, verhinderten diesen Prozess. Kurz nach der Zweiteilung Europas wurden sämtliche Köpfe der Revolution, die für den Ostteil des alten Europas zuständig waren und den Kontinent eigentlich retten sollten, von den Dessens und anderen machtbesessenen, aber unfähigen, Politikern, umgebracht.

Eine umfangreiche Restaurierung fand statt und Osteuropa wurde so schon nach kurzer Zeit erneut dem russischen Reich angegliedert. Die Dessens formten ein autoritäres Regime mit erheblichen Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens. Besonders die Informationsgewinnung und autodidaktische Bildung des einfachen Bürgers wurden auf ein kümmerliches, im Grunde genommen nicht vorhandenes Minimum reduziert, da man die Etablierung neuer Massenmedien verbot, und speziell weil man deren bereits etablierte Väter ausrottete. Die Nation wurde somit nicht nur im 21. Jahrhundert festgehalten, sondern in ein quasi vormodernes, fast schon prähistorisches Zeitalter zurück katapultiert. Mobiltelefone waren verboten und Heimcomputer nur mit extrem beschränkten Fähigkeiten ausgestattet, wodurch sie fast nutzlos waren. Fernsehen und Radio wurden massiv zensiert und von Pro-Regime-Propaganda im Würgegriff gehalten. Die Dessens wären also die letzten gewesen, die einen geregelten Informationsfluss bezüglich hyperboräischer Kulturforschung zuließen, besonders weil Hyperborea neben dem chinesischen Reich, mit dem das russische Reich schon seit Jahrzehnten Konflikte austrug, der nächstgelegene Feind war.

Eine laute Alarmsirene schallte durch das Geisterdorf. Eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme von uns, falls einige Leute, die nicht durch das automatische Läuten unserer Funktelefone nach einer Massenbenachrichtigung durch die Nachtwache aufgeweckt wurden, noch schliefen. Das Exekutionskommando des wiederbelebten KGB wusste spätestens jetzt, dass ein Anschleichen überflüssig war und begann laute Schritte und Stellungsbefehle von sich zu geben. Sie waren nicht auf russischer Sprache, sondern hatten ihren eigenen militärinternen Befehlscode, um den Informationsgewinn, den wir uns erhofften, zunichte zu machen. Das Dessens-Regime nannte diese „Polizisten“ in der Öffentlichkeit „Antiterroreinheit“. Eine lachhaft zynische Bezeichnung für die Lakaien der größten Despotenfamilie des neuen Jahrtausends und der russischen Geschichte überhaupt, bestehend aus Scharfrichtern und Inquisitoren, deren Lebensaufgabe es war, willkürlich auserwählte politische Gegner mit „unmoralischen“ Ansichten zu Staatsfeinden und Volksverrätern zu erklären, um sie dann in einem sich ständig wiederholenden Akt des blinden Gehorsams auszulöschen. Dieser Haufen von mental vergewaltigter Mädchen für alles war nichts weiter als der Fingernageldreck der gesamten russischen Kulturgeschichte. Hellhöriges Gesinde, aber vor allem blindes Gesindel. Mit Hilfe von ideologischen Marionettenfäden kontrollierte Sklaven, die die despotische Drecksarbeit erledigen sollten und den schwammig definierten „Müll“ wegräumen sollten. Politische Säuberung des Staates durch militärische Beschmutzung der Menschlichkeit. Sie erklärten uns schon vor langer Zeit zu Vogelfreien. Leider waren wir so weit wie es auch nur möglich war davon entfernt, so frei wie die Vögel zu sein.

Grelles Licht durchflutete das verlassene und schneebedeckte Dorf. Die weiße Farbe des Schnees reflektierte das Licht und machte es so noch heller, als es sowieso schon war. Der Leiter der Führungseinheit rief mit einem Megaphon verstärkt die Worte „KGB! An alle Personen in allen Häusern! Sie sind wegen Staatsverrat und Volksverhetzung offiziell verhaftet! Wir empfehlen ihnen, sich dringlichst zu ergeben und mit erhobenen Händen nach draußen zu kommen! Ihnen wird ein fairer Prozess gemacht. Wenn sie unserer Aufforderung nicht Folge leisten, sehen wir uns dazu genötigt, Waffengewalt anzuwenden!“ in die Leere des Ödlandes. Er wiederholte die Worte noch einmal, als würde dies die inhaltslose Aussage seiner Floskeln bedeutsamer machen.

Genau in diesem Moment warf ich eine Prozium-Z-Pille aus meiner Tasche ein, die kurzzeitig die Ausschüttung von Adrenalin und sämtlichen anderen Stresshormonen im Körper rapide verstärkte. Die Wirkung setzte sofort ein. Mein Herz raste in gefühlter Lichtgeschwindigkeit. Die Pille entfachte ein Feuerwerk aus biochemischen Reaktionen in meinem Körper, das bis an meine Finger- und Zehenspitzen vordrang und meine Nägel zum Beben brachte. Dieses Medikament wurde von den gegenwärtigen Militärs entwickelt, um den gewöhnlichen Fußsoldaten zu einem gnadenlosen Berserker zu machen. Das letzte Ass im Ärmel für ein gewaltverherrlichendes Massaker. Das Ass für ein Bloody Heart Royal FlushAll In, All Out. Wetteinsatz: Leben. Hoffnung: Überleben. 

Während des Amoktrips auf Prozium war die Empfindung von Schmerz verringert und sämtliche Sinne wurden auf den Kampf kanalisiert. Der Konsument bekam einen Tunnelblick für das Wesentliche. Einige, für den Kampf unwichtige Gehirnfunktionen wurden abgeschwächt, während relevante deutlich verstärkt wurden. Die gesamte Umwelt bekam einen rötlichen Anstrich. Bewegungen wurden deutlicher wahrgenommen, während Worte zu verzerrten Lautsignalen verkümmerten, ähnlich einem Bellen oder Brüllen. Man vergaß sämtliche moralischen Hemmungen und wurde zu einer animalischen Killermaschine, die nur noch das Töten und Sterben kannte.


1.2 - Blutmusik



1.2 – Blutmusik

Das Echo der Schallwellen, die der megaphonverstärkte Haftbefehl auslöste, kam in einem Meer aus Kugeln zurück, die in den ersten Leichen dieses frisch begonnenen Opferfestes brandeten. Eine inhomogene und taktlose Sinfonie. Eine Sinfonie, aber noch mehr eine Sinnfonie. Musizierende Sünde. Eine Sin-Phonie. Und das Orchester bestand aus Explosionen durch Granaten, versteckten Oberflächenminen, die wir sicherheitshalber verteilt hatten, und diversen Projektilen, die den Überschallknall auslösten. Dadurch wurde das Leben und das Sterben in dieser sonst so stummen Einöde katalysatorisch angeheizt. Diese Sinfonie, sie füllte meinen zivilisationsüberdrüssigen Kriegerinstinkt mit einer seltsamen Zufriedenheit. Unsere Mordinstrumente begannen das alte Lied vom Tod durch ihre unterschiedliche Beschaffenheit ganz individuell in den unterschiedlichsten Lautstärken, Tonfrequenzen und Klangbildern, zu spielen.

Ein Teil der Straße war in Rauch gehüllt. Der KGB glaubte immer noch, er konnte heimtückisch aus der Dunkelheit angreifen. Ich gab Schusssalven vom Fenster aus auf sie ab, da die Granate, die die Rauchwolke auslöste, nicht in unserem Waffenrepertoire war, und ich somit nicht Gefahr lief, einen von uns zu töten. Keine Regung. Kein Aufstöhnen durch getroffene Körperteile. Keine Todesschreie. Die Toten sollten erst im Hauptteil der Sinfonie das Klangbild verzieren und verzerren. Sturmgewehre und Maschinenpistolen sorgten für eine gewisse Gleichmäßigkeit der Melodie, während Scharfschützengewehre und Explosionen in unregelmäßigen Abständen die klangliche Höhepunkte zu verantworten hatten. Die Kugeln, die die Mündungen der Schusswaffen wie ein neugeborenes Kind den Mutterleib verließen, schmeckten den Duft des Lebens nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn sie existierten nur, um einen Wimpernschlag später ihren einzigen Lebenszweck, und zwar die Auslöschung von Leben, mit der Auslöschung von sich selbst, zu erfüllen. Kugeln, die perfekten Soldaten. Sie taten immer was man ihnen sagte und starben immer als freiwillige und leidenschaftliche Märtyrer für ihren göttlichen Auftrag.

Wie nun auch der letzte Phlegmatiker des KGB bemerkt hatte, entschieden wir uns offensichtlich für die zweite, abenteuerlichere Option, die uns der Leiter der Führungseinheit so höflich angeboten hatte. Als ob wir wirklich eine Wahl gehabt hätten. Ein „fairer Prozess“ war in den Volksmund übersetzt lediglich ein Euphemismus und eine Verzögerung der zweiten Option: der Exekution durch Schusswaffen nach intensiver und sinnloser Folter, die lediglich zur Bestrafung dienen sollte. Mein Kopf dröhnte wegen des giftigen Todeselixieres, das sich in meinem Körper zusammenbraute. Die radikale und zwanghafte Überwältigung durch die Übernahme, die diese pharmazeutische Endzeit-Errungenschaft an meinem Nervensystem zu verantworten hatte, verursachte für kurze Zeit, dass ich doppelt sah. Zwei Paralleldimensionen, die erst synchron koexistierten, um dann wieder in einer langsam vibrierenden Bewegung zu einer Dimension zu verschmolzen. Mein Herz gab in diesem Moment einen explosionsartigen Knall von sich. Man gewöhnt sich wohl erst vollständig an diesen Stoff, wenn man ein paar mal aktiv davon Gebrauch macht. Wie bei allen anderen Halluzinogenen eben auch. Dies war mein erstes Mal und auch mein letztes Mal, dass ich dieses merkwürdige Gefühl empfand. Ein eindringlicher Eindringling in Gestalt der triebhaften und gewaltliebenden Empfindung des Tieres in seiner reinsten Totalität.

Ich war inzwischen draußen an der Südwand des Hauses, die eine Parallele zur Straße und der dazwischenliegenden Nordwand zog. Die Häuser waren alle mit ihrer Haustür zur Straße gerichtet gebaut worden und standen mit fast schon peinlich berechneter Mathematik in zentimetergenauem Abstand voneinander entfernt auf dem Untergrund, wie die gepflanzten Bäume einer Allee. Ich presste meinen Rücken an die Hauswand und schlich vorsichtig westwärts wie ein Schatten an ihr entlang. Im Hintergrund Schmerzensschreie und Kampfbefehle, die jedoch von den Gesängen und dem Versengen der Tötungsinstrumente übertönt wurden.

Die Beretta-101 war als Sekundärwaffe links am Gürtel gehaftet und ich war stets bereit sie im Notfall zu ziehen, wie ein gesetzloser Cowboy im mittleren Westen Amerikas während der Pionierzeit, der sich in einem Duell auf Leben und Tod befand. Die Primärwaffe war eine AK-69, die promiskuitive und heißblütige Tochter der in früheren Zeiten beliebten, jedoch heutzutage eingerosteten, Ak-47. Auch die größten Kriegshelden müssen irgendwann als Veteranen in Rente gehen. Der überarbeitete Gasdrucklader erhöhte die Feuerrate und machte sie somit fast so effektiv wie das prähistorische M60-Geschütz. Zusätzlich wurden rückstoßdämpfende Elemente, sowie ein montierbarer Granatwerfer unterhalb des Laufes des modernen Kriegswunders hinzugefügt. Der integrierte Schalldämpfer ließ dieses Instrument weniger wie unregelmäßig krachenden Lärm klingen, sondern viel mehr wie das konzentrierte, aufmerksame und harmonische Zusammenspiel von Musikern, die jedoch immer noch laut genug waren, um das auditive Sinneserlebnis nicht zu schmälern. Diese Waffe avancierte in den letzten Kriegen der Welt, ganz nach dem Vorbild ihrer entzückenden und oft entzückten Mutter, zu einer Ikone des Tötens. Das Prozium-Z zeigte immer noch seine volle Wirkung. Der Hormoncocktail in meinem Körper brannte brodelnd darauf, endlich loszulegen.

Ich starrte Richtung Westen. Flachland. Keine geeignete Position für einen Scharfschützen. Wenn sie welche hätten, wären sie schon längst von unseren ausgeschaltet worden. Über einen Kilometer weit im Osten war ein bewaldeter Hügel, der einige Scharfschützen von uns beherbergte. Nur eliminierbar durch andere Scharfschützen. Das Gelände war prädestiniert zur Verteidigung. Der KGB hatte zwar eine bessere Ausbildung seiner Spezialeinheiten, wir hatten jedoch den Vorteil der Überzahl und der optimalsten Vorbereitung. Das ganze Dorf war von einem Ring von fernzündbarer Minen übersät und die Alarmvorkehrungen waren so eingerichtet, dass wir definitiv wussten, dass sie kamen, bevor sie wussten, dass wir wussten, dass sie kamen. Sie hatten wohl damit gerechnet, dass sie uns nebenbei im Schlaf erledigen konnten, wie sie es sonst taten, und dachten, dass ein kleiner Konvoi von Fußsoldaten ausreichen würde. Eine naive und erbärmliche Herangehensweise von Nachtmahren und stümperhaften Meuchelmördern. So war das Moment der Überraschung ebenfalls auf unserer Seite und der materielle Nachteil war auch nur gering. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Der Leiter dieser Spezialtruppen war wie George A. Cluster, der trotz überlegener Technologie und spezialisierten Truppen nicht gegen den indianischen Geist und den immensen Willen der Schafe von Sitting Bull und Crazy Horse ankam.

Ich sah die erste KGB-Einheit aus dem Haus kommen, das sich gegenüber dem westlichen Nachbarhaus von mir befand. Er hatte mehrere Kugeln im Kopf, bevor er ihn zu mir drehen konnte. Er formte einen flügellosen und gewandlosen Schneeengel am Boden, als er von diesem aufgefangen wurde. Der nächste folgte ihm aus dem Haus und danach in den Tod. Die letzte künstlerische Aktivität, die er vollbrachte, glich der seines Vorgängers. Sie starben beide stumm, ohne letzte Worte. Allgemein verringerte sich die Zahl der Stimmen, die an dieser blutdurstigen Sinfonie beteiligt waren. Oder ist es lediglich das Prozium-Z, das sie ausblendete, wie das Gehör bestimmte Frequenzbereiche von Tönen? Wahrscheinlich beides.

Nur noch die kläffenden Waffen hatten etwas zu sagen, die besten Freunde des Menschen. Sie dominierten die Geräuschkulisse auf der Bühne des Seins. Sie waren die Hauptdarsteller in dieser göttlichen Tragödie über die menschliche Existenz mitsamt ihres tierischen Verhaltens, den menschlichen Umgang und Untergang mit der gelobten Technologie und den darauf folgenden Exitus, dem Exil in der Nichtigkeit, dem X auf seiner Stirn. Die Menschen am Abzug waren lediglich die Schatten und Requisiten ihrer Technologie. Das geistlose Objekt der Umwelt, welches der Mensch lieber als Waffe verwendete, als als Werkzeug, bestimmte das Schauspiel, und es spielte seine Rolle nicht nur mit seinem Herzblut, sondern auch mit dem Herzblut seines willenlosen Schattens. Das Objekt beherrschte das Subjekt und nicht umgekehrt. Der Fortschritt als Rad des Seins. Jedoch wurde das Sein nur vom Fortschritt gerädert.

Die feierliche Szenerie war ein fantastisches Spektakel. Befehle an Seelenaufzüge, die sich nach oben bewegen sollten, einsouffliert von Abzügen, die sich nach hinten bewegten. Abtritt der Statisten aus dem Leben, durch den Auftritt des Protagonisten im Tod. Zufall und Schicksal applaudierten begeistert angesichts dieser atemberaubenden Umsetzung ihres grotesken und ambivalenten Drehbuches, das gleichzeitig unsere Todesliste war. Die Farce war fast vollkommen. Die nun endgültige Ablehnung der Vernunft und Anbetung des Triebes wurde durch die vollkommene Technologie in meinem unvollkommen Körper propagiert. Manipulation der eigenen Biologie, durch Pharmazeutika, als Wegführung vom Menschen und Hinführung zum Anhänger des Teufels. Stresshormone gleich Glückshormone. Wut gleich Lust. Tod gleich Leben. Es war überwältigend. Der Fortschritt nur als Fortschritt über dem Abgrund. Der Mensch als Artist, balancierend auf einem Seil, das kurz davor war unter dem menschlichen Gewicht der Unfähigkeit zu zerreißen, wodurch dieser schließlich vom Abgrund verschluckt werden würde. Der Mensch wollte kein Mensch sein. Der Mensch wollte ein Tier sein. Der Himmel, den er wollte, musste im Jenseits sein, denn die Hölle die er wollte, wollte er im Diesseits haben. Der Krieg war schon immer seine höchste Kunst und der Tod das höchste Ziel in seinem Leben.

Ich spürte, wie das Prozium meinen Körper zum brodeln brachte, die frohe Kunde verbreitete. Es propagierte auf einem galoppierenden Pferd und mit schallender Stimme den tonalen und totalen Krieg innerhalb meiner Hautmauern und außerhalb von ihnen. Es motivierte das stehende Heer, zog Reservisten ein, organisierte Söldnerarmeen. Meine Blutkörperchen mobilisierten sich. Botenstoffe wurden als Späher ausgesandt. Hasserfüllte Organe planten strategisch den nächsten Militärzug. Brennender Zorn. Jeder Knochen war auf den Angriff abgerichtet worden. Flammende Raserei. Mein gesamtes Muskelgewebe war auf das Töten dressiert worden. Sengende Tobsucht. Mein Trieb sprengte die Kettenfesseln, die mir mein Gewissen und meine Vernunft ihm anlegten, wie ein mutiertes Monster in einem Kerker seine Stahlhandschellen mit seiner reinsten Körperkraft. Das Ergebnis war entfesselte Wut. Ich war bereit das zu töten, was getötet werden musste. Reinster Hass, unbefleckt von jeglicher Menschlichkeit. Ich wollte den Feind mit einem Streitkolben erschlagen. Ich wollte den Feind mit einem Langschwert enthaupten. Ich wollte dem Feind das Gesicht mit einer Streitaxt entzwei spalten.

Ich wollte in einer Wanne aus menschlichen Leichenteilen gegnerischer Kriegsgefallen baden, im Blut des Feindes eintauchen und seine Organe auf meinem Körper verreiben, während ich Die Walküre von Wagner anhörte und den Triumph des Willens von Riefenstahl ansah. Meine Nervenzellen spielten Blutmusik. Absolutistischste und totalitärste Ekstase. Das Prozium dirigierte nun jede einzelne meiner Nervenzellen, die gleichgeschaltet Schlachtrufe donnerten...

...Ich spielte die anmutige Kalaschnikowa wie ein Virtuose à la Vivaldi seine Violine, als ich am Höhepunkt des Kampfrausches angelangt war. Ich spielte Kriegsgesänge. Stradivaris Schüler und Scipios Soldat. The Violin of Violence. Die Violine der Gewalt in einem romantisch stürmischen Allegro. Entschlossen durch den Notenschlüssel. Betörende Tanzmusik, die begleitet von munterem Pfeifen aus einer mystischen Waldlichtung hallte. Die Violine allein spielte die Musik. Der Violinist war zweitrangig und austauschbar. Die Beretta spielte zwar nur die zweite Geige, doch auch sie hatte ihre besonderen Momente. Sie war Kontrapunkt und Begleitung. Akustische Akrobatik der Akkorde. Tonale Tödlichkeit im Tripeltakt. Elegante Exekution durch Ensembles. Jeder einzelne Schuss klang fantastisch. Jeder einzelne Schuss klang fanatisch. Jeder Ton war eine instrumentalisierte Version einer glücklichen Erinnerung und einer euphorischen Zukunftsvision. Jede Schusssalve brachte mich weiter nach oben auf der bunten, vibrierenden Tonleiter zum Himmel der Komponistengeneräle und Soldatenchöre, die die Kriegskunst und die Blutmusik schon perfektioniert hatten. Und je höher ich stieg, desto intensiver war der Rausch. Je tiefer die Musik in mich eindrang, desto extensiver war der Genuss. Ein scheinbar endloser Vorrat an Endorphinen wurde in den tiefen Schlund meines Verlangens, aus dem jene Tonleiter ragte, geschüttet. Ich tanzte den vollendeten heidnischen Ritus zwischen den Oktaven, zwischen den Klangebenen und den Tonfrequenzen mit dem Gefühl unverwundbar zu sein. Ich tanzte auf Klaviertasten. Jeder Schritt den ich ging, ließ einen anderen Ton erklingen. Jeder Atemzug war das hohe C einer Klarinette. Jeder Herzschlag war das Subsubkontra-b einer Trommel. Obwohl ich kein Wort sagte, bebten meine Stimmbänder wie eine Harfe, an der man zupfte. Mein Körper war ein organisches Orchester. Eine bombastische Big Band. Und das Adrenalin war die Musik. Mein tierisches Gehirn dirigierte den Takt dieses zeitlosen Musikstücks und mein Hormonsystem formte die Melodie. Allein ihre Stimmen bestimmten. Je länger ich spielte, desto höher wurde die Lautstärke, desto weiter wich die Hörschwelle, desto eindringlicher wurden die Klangfarben. Mein Herz schlug lauter als je zuvor. Und es schlug jeden, der mir in die Quere kam, um dieses Meisterwerk zu beenden. Wenn nötig, würde es jeden mit dem Taktstock erstechen. Ich lebte. Ich lebte und tat mehr als nur Leben. Reinster Enthusiasmus. Mein Geist formte keine Gedankenworte mehr. Er deformierte sie und sprengte sie in ihre phonetischen und morphemen Einzelteile. Mein Verstand formulierte keine Denkansätze mehr, sondern decodierte die hormonelle Zufriedenheit in meinem Serotoninspiegel, und übersetzte sie direkt in unlesbare, fremdsprachige, hieroglyphische Gedankensätze:
                                                                                        Blutmord, schöner Götterfunken,
                                                                                        Tochter aus Elysium,
                                                                      Wir betreten feuertrunken,
                                                                       Himmlische, dein Heiligtum.
                                                 Deine Zauber binden wieder,
                                                 Was die Moral streng geteilt,
                        Alle Menschen werden Brüder,
                        Wo dein schwarzer Flügel weilt.
Ich war vollkommen. Ich war vollendet.
ICH BIN GOTT!!!
Fire in the Hole! Plötzlich Taubheit und Blindheit. Tinnitus. Schreiende Stille. Gleißendes Licht. Grelle Finsternis...

...Ich hechtete, nachdem die Blendgranate mich erwischt hatte, hinter einer Hauswand in Deckung. Nach ein paar Sekunden konnte ich wieder normal hören und sehen. Der Absender bekam ein paar Kugeln als Gegenargument serviert. Schüsse und Explosionen hatten fast aufgehört zu erklingen und die Einöde wurde langsam sanft in den Schlaf gesungen. Die Sinfonie segelte heiter ihrem Finale entgegen. Die Tragödie von Zufall und Schicksal bewegte sich Richtung Exodus, während die Tragödie von Trieb und Vernunft sich Richtung Exitus bewegte. Das Prozium begann langsam abzuklingen. Wie der Klang meiner Klinge. Das Magazin war aufgebraucht. Der Reiseführer durch Galaxien und Sonnensysteme begann vom Gas runterzugehen und sanft in den Leerlauf überzuwechseln. Mein Sprachzentrum gab wieder die ersten Gedankenlaute in meinem Kopf von sich.

Ich sah einen Mann am Boden. Einen vertrauten Mann. Mein Vater. Er murmelte irgendwelche Zauberformeln, die man im Todeskampf in Folge von Hysterie und Sauerstoffmangel eingegeben bekam, in sich hinein. Ich versuchte zu ihm zu rennen, doch es ging nicht. Mein linkes Bein war verletzt. Aber nicht schwer, nur ein Streifschuss wahrscheinlich. Ich spürte durch das Prozium zwar immer noch keinen Schmerz, doch immer wenn ich versuchte mein Gewicht auf das linke Bein zu verlagern, war es im Begriff, abzuknicken, wenn es zu lange belastet wurde. Ich konnte nur hinken.
Plötzlich eine schwächelnde Bewegung auf der linken Seite im Schatten, direkt vor einem Haus. Ein KGB-Agent krümmte sich am Boden. Sein rechter Arm des Gesetzes fehlte. Die Torsohälfte, an der er dran war ebenfalls. Er kam wohl in den Genuss eine Granate aus nächster Nähe zu begutachten. Oder eine Mine, vollkommen egal. Doch er lebte noch. Dieses Gesindel war nicht tot zu kriegen. Wie bei einem Huhn, dem man den Kopf abschlägt. Ich zog die Beretta-101 aus der Tasche. Die zweite Geige gab noch eine letzte Zugabe und zwang den Gegner zur Aufgabe. Ich schoss unnötig viele Kugeln auf ihn, bis ich bei ihm ankam und ihm einen finalen Kopfschuss verpasste. Die Verbeugung des Künstlers. Die Beugung des Unterlegenen. Die Vergebung durch niemanden.

Ich humpelte zu meinem Vater und untersuchte ihn auf Lebenszeichen. Er gab inzwischen keinen Laut mehr von sich. Seine Verletzungen waren nicht schwer, doch er war nun bewusstlos. Es schien fast so, als sei er nur müde und würde schlafen. Sein Herz schlug noch. Sein Atem war gleichmäßig. Ich hatte nur beschränkte Sanitäterfähigkeiten, dennoch wusste ich, dass er eine Chance hatte zu überleben.


1.3 - Höllenspektakel/ Vorhof zur Hölle



1.3 – Höllenspektakel / Vorhof zur Hölle

Ich musste zum Lager, welches wir am anderen Ende der Straße eingerichtet hatten. Durch den Sumpf von Blut und Tod. Ich wollte rennen, so schnell ich konnte, doch mein linkes Bein verbot mir dies. So musste ich das ganze Grauen, was hier geschehen war eine gefühlte Ewigkeit ertragen, bis ich am Ziel ankam, und zum Ende der Straße hinken. Währenddessen klang die Wirkung der Prozium-Z-Pille ab. Ein Höllenzeug. Eine konzentrierte Hassdroge, ein Zerstörungsvitamin, das totale Vernichtungsgelüste verursachte. Das Sperma des Teufels. Der Schmerz meldete sich immer noch nicht, denn mein Körper war immer noch voll mit Adrenalin gepumpt. Wahrscheinlich habe ich noch andere Verletzungen.

Nun hörte ich nichts mehr außer totale Stille. Sind alle außer mir tot? Selbst die Scharfschützen, die an den Ästen im östlichen Wald hängen? Ich wusste es nicht und ich konnte es auch nicht überprüfen. Sie waren über einen Kilometer entfernt. Beim begehen der Straße fühlte ich mich so, als würde ich mich auf dem Vorhof der Hölle bewegen. Der gesamte Weg war gesäumt von Leichen, Waffen, Patronenhülsen und anderen Kriegswerkzeugen wie explodierten Minenköpfen und den Überbleibseln von Granaten. Vereinzelt lagen abgetrennte Gliedmaßen zwischen den Leichen und ab und zu auch Teile von inneren Organen. Umrandet wurde die Szenerie mit dem Schießpulverschwarz der Granaten und Sprengstoffe, sowie den zerstörten Ruinen der ehemaligen Dorfidylle. Der Schnee des Winters brachte dieses Schwarz noch besser zur Geltung, als jede andere Jahreszeit es tun könnte.

Ich watete langsam durch diesen Pfad der Verwüstung, wie jemand, der mit den Armen nach vorne gerichtet die Dunkelheit abtastete. Und dunkel ist es auch hier an diesem Ort. Die Szene hätte eine perfekte Schwarz-Weiß-Fotographie über das menschliche Versagen werden können. Die Straße im Vorgarten der Hölle als Sinnbild für die menschliche Geschichte und die Hölle als gemeinsame Zielgerade für alles und jeden. Das Einzige was in dieser Szenerie noch fehlte war der Teufel selbst, der sich nackt in seinem Vorgarten sonnte und mit einem diabolischen Lachen masturbierte, denn das Schauspiel, das die jämmerlichen Menschen ihm hier dargeboten hatten war der Anlass seiner höchsten Erregung. Und so kann er noch mehr von seinem Wundermittel produzieren, das den ewigen Kreislauf des Krieges in Gang hält.

Menschen mit denen ich lebte. Menschen, die ich liebte, zusammengewürfelt mit Menschen, die ich hasste und die die Menschen, die ich liebte, töteten, waren zu einem riesigen, organischen Mosaik des Todes angeordnet worden. Ich fühlte mich so, als müsse ich gegen die Strömung der Styx anschwimmen. Gegen all die Massen von Blut, den toten Menschen und deren Kindern, die mit offenen Mündern nach oben starrten, wie Fischleichen und deren Fischlaichen in einem vergifteten Bach. Die Straße hatte genau den selben blutroten Anstrich wie dieser Fluss. Tatbestand: sinnloser Kollektivsuizid. Motiv: Unmenschlichkeit. Oder ist es Menschlichkeit?

Wenigstens wirkt das Prozium-Z noch. Es gab mir immer noch das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Ohne Deckung und gänzlich schutzlos hinkte ich zum anderen Ende der Straße. Mir war egal, dass eventuell aus der nächsten Ecke ein feindlicher Überlebender hervorspringen konnte, um mit mir das gleiche zu tun, was ich den Leuten von seinem Kaliber angetan hatte. Töricht und tollkühn. Der flüchtige Verstand als Achillesferse. Besessen von dieser Droge waren sämtliche Entscheidungen, die man traf, weder toll noch kühn, sondern eine reine Dummheit und eine Verachtung von menschlicher Moral.

Mitten auf der Straße lag ein alter Mann, mit dem ich oft Schach spielte. Er erzählte mir oft Geschichten. Über seine eigene Vergangenheit und über die Geschichte im Allgemeinen. Seine persönliche Geschichte war nun zu Ende geschrieben. Leider hatte sie ein tragisches Ende. Die untere Hälfte von ihm hing am Dach eines Hauses. Seine Gedärme lagen unterhalb seines Torsos auf dem Steinboden, als hätte jemand den Inhalt einer Plastiktüte, kopfüber an den unteren beiden Ecken schüttelnd, ausgeleert und beide Dinge einfach liegen gelassen. Ein paar Meter weiter lag ein gleichaltriger und guter Freund von mir, mit dem ich oft über Hyperborea phantasierte. Wir malten uns Zukunftsszenarien in der Stadt der Städte aus. Die Szenarien würden für ihn nicht einmal ansatzweise wahr werden. Er hatte mehrere Kugeln im Brustkorb und im Kopf. Sein rechtes Bein fehlte. Die leichten Abzeichnungen seiner jungen Falten, die sich schon bildeten, obwohl er noch nicht einmal zwanzig war, waren vollgeschrieben mit dem gesamten Leid, das das Leben ihm schenkte und der Tod ihm in Form einer Fotographie dieses Augenblickes auf seinem Gesichtsausdruck, anlässlich seines ersten Todestages, hinterließ. Ein Mädchen, in das ich früher ein paar Monate verliebt war, lag tot am Wegesrand. Sie war blutüberströmt und starrte mit ihrem toten rechten Auge in die Leere des Universums. Ihr linkes Auge war nicht mehr existent, da ihre linke Kopfhälfte weggesprengt wurde. Teile ihres Gehirnes lagen neben ihr verteilt am Boden. Ihr schwarzes Haar, das einst so schön glänzte, war nun in einer Mischung aus verdrecktem Schnee und Blut getränkt. Sie hatte nichts mehr von der Schönheit des Lebens. Nur noch die Hässlichkeit des Todes machte sich in ihrer Erscheinung bemerkbar. Sie hatte noch nicht einmal ihre Volljährigkeit erreicht und gleichzeitig war sie schon älter als eine kranke Witwe, die im Sterben lag.

Dann sah ich meinen Bruder. Sein Körper lag zerfetzt und verstümmelt im verdreckten Schnee. Er hatte ein monströses Einschussloch im Brustkorb. Wahrscheinlich von einem Scharfschützengewehr, das ihn sofort tötete. Anschließend musste seine Leiche noch von Explosionen und weiteren Kugeln durch die Luft geschleudert worden sein. Seine rechte Hand war um sein Kreuz geschlungen. Die linke lag mitsamt des dazugehörigen Armes irgendwo im Nirgendwo. Wie durch ein Wunder hatte das Kreuz nichts abgekommen. Gott beschützt wohl nur heilige Objekte, denn bei meinem Bruder sieht die Diagnose ganz anders aus. Sein Körper war vollgestopft mit Kugeln. Als wäre gerade Er eine besondere Bedrohung gewesen. Als hätte Er sieben Leben wie eine Katze gehabt, die man alle nacheinander auslöschen musste. Mein großer Bruder. Der, der mich vor anderen in Schutz genommen hatte, als ich klein war. Der, der mir Mut machte, wenn ich traurig war. Der, mit dem ich lachen konnte und für Momente der Freude verantwortlich war, von denen es in meinem Leben nur eine handvoll gab. Nun konnte er nichts mehr für mich tun. Aber ich kann noch etwas für ihn tun. Ich öffnete seine Hand und starrte auf das Kreuz. Es wurde lediglich von einigen Spuren Schwarzpulver, die von seiner Hand stammten, bedeckt. Ich hing sein Kreuz über meinen Hals und nahm seine Freedom-7, die ein paar Meter neben ihm im Schnee lag, an mich. Seine wertvollsten Besitztümer sollten nicht an so einem Ort zu Grunde gehen.

Die AK-69 ließ ich auf den Boden fallen. Sie war profan und wertlos und konnte von mir aus in diesem Massengrab zu Staub zerfallen. Ich spürte keine Trauer, jedenfalls keine emotionale. Das Prozium-Z blockierte diese Funktion meines Körpers. Trauer war nicht nützlich für den Krieg. Nur das Lachen war nützlich für den Krieg. Das apathische Lachen im Anblick der Agonie. Das Lachen über den Tod und das Lachen über das Leben. Ich ging weiter bis ich das Lager erreicht hatte und warf einen Blick zurück auf die Straße. Ich erinnerte mich daran, dass heute Heiligabend war. „Ist das Leben nicht schön?“, murmelte ich in einem Anfall von nihilistischem Zynismus und verzweifelter Resignation. Dieser Abend war alles, nur nicht heilig. Übrigens, mein Geburtstag ist in wenigen Stunden. Früher hatte ich Geschenke an diesen Tagen bekommen. Zeiten ändern sich. Die Wirkung des Proziums klang weiter ab. Der Schmerz gab seine ersten Signale von sich. Das unterirdische Lager war glücklicherweise unversehrt von den Kampfhandlungen geblieben.

Ich entschloss mich an der Wand neben der Eingangstür kurz zu erholen und ließ mich auf den Boden fallen, um mich für eine Minute auszuruhen. Ich war so erschöpft wie nach einem Marathon. Ein Marathon des Grauens. Barfuß durch die Hölle. Wie nach einem Spießrutenlauf durch ihre neun Kreise. Der Raum war ein großer Keller, der überfüllt war mit Nahrungsmitteln, medizinischem Material und sonstigen Werkzeugen, die man im Überlebenskampf brauchte. Viele Dinge standen chaotisch in der Gegend herum und wirkten eilig abgestellt. Wir brachten vieles zur Lagerung her, in den paar Tagen, in denen wir das seelenlose Dorf besetzten.

Ich betrachte einen Wassertropfen, der von der Decke fiel und am Boden in Millionen von Molekülen zerplatzte, was ein leises Geräusch verursachte, bevor das Wasser im Boden versickerte. Der Untergrund wurde zu seinem Grab, wo er für diverse Organismen neue Nahrung sein würde. Ich hörte einmal, dass der Mensch zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen würde. Doch das Schicksal des Menschen gleicht dem des Wassers zu hundert Prozent. Wenn wir sterben, würden unsere organische Überreste unter der Erde zu den Malzeiten von Bakterien und anderen Mikroorganismen werden. Der Tod nährt das Leben. Der ewige Zyklus der Natur. Das narzisstische Inzuchtverhältnis der Mutter des Lebens mit sich selbst. Die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Natürlicher Krieg ist ihr Motor. IN EWIGKEIT... Ich werde schon wieder depressiv. Das letzte, was ich in dieser Situation gebrauchen konnte. Die Wirkung des Proziums war nun fast gänzlich abgeklungen. Mein ganzer Körper brannte vor Schmerz. Ich brauche Pillen, um ihn zu bekämpfen.

Es waren nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze. Viele Nahrungsmittel würde ich nicht mehr benötigen. Ich würde in ein paar Stunden ankommen. Ich packte alles nötige in einen großen Tornister. Munition, Verbandsmaterial, Nahrungsvorräte. Ich lief an einer einer Flasche Jolly Roger vorbei. Dreiunddreißigprozentiger Likör. Ein bitterer Himmel und eine süße Hölle. Schlecht für den Körper, gut für die Seele. Ich nahm sie in die Hand und starrte auf das Markenzeichen auf dem Flaschenbauch. Ein weißer Kaninchenkopf, dessen Augen aus Kreuzen bestanden, grinste mich an. Er streckte die Zunge heraus und das rechte Ohr war nach vorne abgeknickt. Unterhalb des Kopfes formten zwei weiße Sturmgewehre ein Kreuz. Ich kannte dieses Waffenmodell nicht. Das Ganze auf einem schwarzen Hintergrund. Ganz unten stand: „Für alle Rookies - Eine kleine Rebellion des Körpers, um die Rebellion des Geistes anzuheizen.“ Keine Werbung würde mich in dieser Situation mehr ansprechen. Diese Marke war im russischen Reich illegal, Gott weiß warum. Andere Spirituosen waren es nicht. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er mir besser schmeckte, als alle anderen Schnäpse. Ich packte die Flasche ein, um den Schmerz zu betäuben, sowohl den physischen, als auch den psychischen. Nachdem die Schmerzpille nicht sofort wirkte, machte ich spontan ein Drittel der Flasche leer. Ich überlegte nicht lange, ob diese Idee gut war. Ich wollte nur, dass der Schmerz aufhört. Die angebrochene Flasche und zwei weitere verstaute ich im Rucksack.

Dann ging ich zurück zu meinem Vater, erneut durch den Vorhof zur Hölle, nur dieses Mal in die andere Richtung. Plötzlich stolperte ein verletzter KGB-Agent aus einem der verwüsteten Häuser. Sein rechter Arm fehlte. Er schaute mich überrascht an, dann richtete er die Waffe auf mich. Er denkt wohl, alle außer ihm seien tot. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Er wollte gerade abdrücken, als ein Schuss aus einem Scharfschützengewehr ihn erledigte. Ich bin wohl doch nicht der einzige aus unseren Reihen, der überlebt hatte. Der Zustand meines Vaters hatte sich nicht verändert. Er brauchte wahrscheinlich trotzdem dringend eine ärztliche Untersuchung. Ich musste schnellstens ein fahrtüchtiges Fahrzeug finden und in ein nächstgelegenes Krankenhaus. Die Wahrscheinlichkeit, eines auf dieser Seite der Grenze zu finden war jedoch gering. Alle Dörfer in der näheren Umgebung waren wie ausgestorben. Entweder wegen den Zwangsumsiedlungen der Grenzgebiete vor Jahrzehnten oder wegen der Massenflucht der übrig gebliebenen Bevölkerung teilweise in die Großstädte des Reiches, jedoch meistens über die Grenze nach Hyperborea. Ich versuchte eines der Fahrzeuge, die wir besaßen zum funktionieren zu bringen, doch vergeblich. Sämtliche Fahrzeuge waren durch die Kampfhandlungen beschädigt worden. Ich und mein Vater würden hier im Nirgendwo festsitzen, nur um dann das Zeitliche zu segnen, wie alle anderen hier auch. AHHH!


 Meine Verletzungen meldeten sich bereits. Mein Herz raste. Ich musste mich hinsetzen, nur für einen winzigen Augenblick. Dann kam mir die Idee. Ein paar hundert Meter weiter musste der KGB seine Fahrzeuge abgestellt haben. Die Götter gaben mir recht. Drei Einsatzwagen, die aus der Entfernung aussahen wie Spielzeuge. Die Transporter würden Identitätsverifizierungen verlangen. Ich hinkte zur nächstgelegenen Leiche und schnitt ihr den Finger mit einem Messer aus dem Lager ab. Den Kopf ebenfalls. Der Tote wird beides nicht mehr brauchen. Ich blickte voller Abscheu in das Gesicht des Toten. Und des Todbringers. Ein Schub von unendlichem Hass raste durch meinen gesamten Körper. Ich wollte diesen Kopf zu Staub verwandeln. Er war jetzt zwar nur noch organischer Müll, doch ich wollte seine materielle Existenz für alle Zeiten zu Nichte machen. Allein die Tatsache, dass ich ihn vielleicht noch brauchen könnte, vereitelte mir diesen Wunsch. Ironischerweise hatten diese „Menschen“ nur tot einen Nutzen. Egal, wenn die Zeit reif ist, werden die Ratten mir meinen Wunsch erfüllen. Den Kopf und das Messer stopfte ich in den Rucksack. Ich packte meinen Vater auf eine Schubkarre aus dem Lager und schob ihn zum Wagen. Der Finger konnte die Tür öffnen. Das Armaturenbrett forderte einen Augenscan. Ich hatte recht. Wissen kann manchmal Gold wert sein.

Ich warf den Kopf auf den Beifahrersitz und legte meinen Vater auf dem Rücksitz ab. Danach überprüfte ich nochmal seinen Gesundheitszustand. Immer noch keine Verschlechterung. Die Freedom-7 und der Rucksack fanden ihren Platz unter dem Rücksitz. Meinen Mitstreiter werde ich auf der anderen Seite der Grenze wieder sehen. Dann stieg ich auf der Fahrerseite ein und schaute zum unerwünschten Gast herüber, beziehungsweise den Teil, den ich von ihm mitgenommen hatte. Sein Blick war vollkommen leer. Wahrscheinlich schon bevor er die Schwelle zu den Toten erreicht hatte. Sein Finger zeigte auf mich. Dieser Mensch war selbst tot eine Provokation. Der Alkohol begann zu wirken. Ich brauch' noch mehr. Und noch 'ne Schmerzpille. Dann fiel mir ein, dass es eigentlich illegal war in betrunkenem Zustand zu fahren. Ich lachte kurz über dieses Gesetz, als mir kurz drauf in Sinn kam, was eine Stunde zuvor passiert war. Das Lachen blieb mir im Halse stecken und schnürte mir fast die Luft ab. Ich wünschte mir fast, dass es ihm gelingen würde. Ich manipulierte das Betriebssystem des Wagens, indem ich mich in den Zentralcomputer einhackte, um ein Aufspüren durch den KGB unmöglich zu machen. Diese Autofahrt sollte die längste Autofahrt meines Lebens werden. Vielleicht eine Fahrt ins Nichts, eine Fahrt in den Tod. Ich bin seit Jahren nicht mehr Auto gefahren.

Nach ein paar Kilometern, die die Durchquerung immer neuer Geisterdörfer und Ruinenstädte nach sich zog, und die Verzweiflung immer stärker wurde, während die Hoffnung immer schwächer wurde, und die Flasche immer leerer wurde, keimte ein Schimmer der Hoffnung in mir auf: mein Vater kam zu Bewusstsein, als wir eine neue Stadt durchquerten. Er hustete und seine Stimme war schwach. „Vater! Vater!“, schrie ich. Vor Freude rannten mir Tränen in die Augen. „Mein Sohn...“ „Ja, wir haben bald die Grenze erreicht!“ Ich fühlte mich so, als sei ich einen Abgrund gestürzt und nach Tagen des Hungers und der Schmerzen, sei mir ein Seil nach unten gereicht worden. „Geh...“, sagte er mit schwacher Stimme, die so klang als wäre sie kurz vor dem zerbrechen. „Ja?! Was ist?! Geh?! Wohin soll ich gehen?!“ Ich wiederholte die Worte, als könnte dieser Vorgang die Sätze meines Vaters schneller aus seinem Rachen ziehen. „Geh.. nach Hyperborea.“ „Ja.. das werde ich! Nein.. das werden wir!!! Wie geht es dir Vater?!“ Keine Antwort. Schock. „Vater? Wie geht es dir?“ Erneut keine Antwort. Verzweiflung. Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Den Stich eines vergifteten Dolches, der um neunzig Grad in meinem Herzen gedreht wurde.  Ich trat geistesabwesend auf die Bremse. Herzstillstand. Der Wagen geriet ins stocken und würgte ab. Mein Verstand ebenfalls. Ich stieg aus dem Auto, um den Zustand meines Vaters zu überprüfen. Ich hatte eine Heidenangst vor der Diagnose. Es gab nichts in diesem Moment, was ich weniger gern getan hätte. Konzentrierte Schläge in mein Gesicht mit einer Eisenstange wären mir lieber gewesen. Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich. Nichts. Kein Herzschlag. Kein Leben. Kein Grund mehr weiterzuleben. Ich ließ mich auf den schneebedeckten Boden fallen, doch es fühlte sich an, als würde ich in die endlose Leere fallen. Eine bodenlose Leere. Ich setzte mich aufrecht hin, lehnte mich gegen das Auto und starrte den Schnee an. Mein Kopf war für einen Moment vollständig leer. Dann leerte ich die letzten Reste der inzwischen schon zweiten Flasche. Würgereiz! Anschließend übergab ich mich. Das gesamte Elend sollte aus meinem Körper fliehen, sowohl der Schmerz, als auch die Erinnerung an ihn. Ich wollte einen Exorzismus an mir selbst durchführen, der alles schlechte was mir je widerfahren ist, wobei die letzten Stunden davon der Höhepunkt waren, aus mir heraus treiben sollte. Ich wollte meine ganze Seele auskotzen, den Dämon der mein ganzes Leben zerstörte. Als es vorbei war, legte ich mich kerzengerade auf den Boden.

Ich sah alles verschwommen und benebelt, doch den Nachthimmel, zu dem ich aufsah, erkannte ich noch. Das Universum. Dunkelheit, die lediglich von ein paar Lichtpunkten unterbrochen wurde. Wie mein Leben, nur dass die Anzahl der Lichtpunkte geringer ist. Deutlich. Dann fiel mein Blick auf die Flasche. Das Kaninchen grinste mich an. Es lachte mich hämisch aus. Geh mir aus den Augen! Ich warf die Flasche gegen einen nächstgelegenen Baum. Die Scherben splitterten durch die gesamte Gegend. Vor meinem inneren Auge spielte sich diese Szene noch einmal in Zeitlupe ab. Ich sah den Baum an. Es war eine Eiche, die im Sommer majestätisch und glanzvoll erscheinen würde. Jetzt jedoch war sie nackt und hilflos im Angesicht Winters, verstümmelt durch die Kaltherzigkeit der Natur. Genau wie ich. Der Alkohol in meinem Körper ließ sie wie ein verschwommenes und verschobenes Acrylwerk eines unfähigen Künstlers erscheinen. Mein Blick fiel auf das Gebäude vor mir. Ich nahm es nur beschränkt war, doch es kam mir bekannt vor. Ich schaute mich um. Ich war schonmal hier gewesen. Vor langer Zeit. Ich wohnte als Kind schon mal in der Nähe dieser Stadt. Jedoch nicht lange.


1.4 - Historischer und politischer Exkurs



1.4 – Historischer und politischer Exkurs

Wir mussten als politische Flüchtlinge immer in Bewegung sein. Schon immer, seit meiner Geburt, um den Klauen des Staates zu entfliehen. Wir lebten eine gewisse Zeit in der Nähe der westlichen Grenze. Leider war zu diesem Zeitpunkt noch kein Abkommen zwischen West- und Osteuropa zustande gekommen, das beide Seiten den Flüchtlingen des Nachbarstaates Asyl gewähren würden. Dies war erst seit einigen Jahren möglich. Generell machte nur eine Seite wirklich Gebrauch von diesem kulturellen Austausch. Wer will schon vom Himmel in die Hölle umziehen? Selbst die Bösartigkeit der Dessens konnte dem internationalen Druck, besonders dem Druck der IAA-Staaten nicht standhalten, und mussten sich dieser mehr oder weniger erwünschten diplomatischen Annäherung der beiden Teile des alten Europas fügen. Probleme mit der IAA konnte sich das russische Reich nicht leisten, da sich die russischen Generäle vollkommen auf China konzentrieren mussten. Ein Zwei-Fronten-Krieg wäre ihr Untergang gewesen. Für das russische Volk kam dieses Abkommen unerwartet, besonders, da die Regierung die Informationen so lange wie möglich zurückhielt. Dummerweise befanden wir uns zu diesem Zeitpunkt in der Nähe von Moskau, weit weg von der westlichen Grenze. Eine Mauer, die ihre Einwohner zurückhalten sollte war den Dessens verboten. Das hielt das Regime jedoch nicht zurück, ihre politischen Gegner gezielt ausschalten zu lassen, solange diese sich noch in deren Territorium befanden.

Die IAA war eine Konföderation von den Republiken: Indien, den Vereinigten Arabischen Staaten und dem Vereinigten Afrika, die sich im Zuge der neuen Weltordnung nach dem dritten Weltkrieg (diese Entwicklung hatte sich jedoch auch schon davor abgezeichnet) zusammenschlossen, um international gegen die mächtigen Weltreiche bestehen zu können. Die drei Staaten hielten sich weitestgehend aus dem dritten Weltkrieg und anderen Konflikten heraus und wurden in den letzten Jahrzehnten durch einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung beflügelt. Die Staaten der restlichen Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge eines neuen postdemokratischen Imperialismus ständig im Kriegszustand (sowohl innere, als auch äußere Konflikte) befanden, gerieten nach und nach in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von der IAA, da ihre Volkswirtschaften langsam aber stetig zusammenbrachen, was die IAA zur größten Wirtschaftsmacht des neuen Jahrtausends machte. Die IAA verfügte über ein Drittel der Weltbevölkerung und fast die Hälfte des Weltbruttoinlandsproduktes. Dies wurde vor allem durch internationale Zusammenarbeit der drei Teilstaaten erreicht und Handelsbeziehungen in den letzten Jahren, vor allem mit dem amerikanischen Reich und Hyperborea erreicht.

Das amerikanische Reich mit dem gesamten Kontinent Amerika und der Karibik war das größte Reich der damaligen Gegenwart und der Geschichte bis dato überhaupt. Jedoch hatte es sich nach der Niederlage im dritten Weltkrieg fast gänzlich isoliert und sich aus den globalen Angelegenheiten zurück gezogen, vor allem da es ständig mit der Bekämpfung der Aufstände im Süden des Kontinents und mit der Konsolidierung des Südens im Allgemeinen beschäftigt war. Nun war es langsam wieder im Begriff, die Grenzen zu öffnen und wieder richtig auf dem Weltmarkt mit zu mischen.

Die chinesische Republik, das zweitgrößte Reich, das mit dem russischen Reich nach dem dritten Weltkrieg kontinuierlich Krieg führte, besaß den Kontinent Australien, sämtliche Inseln des Pazifiks (die bedeutsamste war Japan) und die indochinesische, sowie die koreanische Halbinsel. Eine langfristige Beherrschung des Pazifiks gelang China durch den Sieg über Amerika im dritten Weltkrieg, jedoch waren sämtliche westlichen Grenzgebiete durch das russische Reich gefährdet. Die Politik konnte sich dem plötzlich massiven Gebietszuwachs nur schwer anpassen und die Nation leidet wegen der unüberschaubaren Größe und der permanenten Bedrohung durch die russischen Generäle in weiten Teilen des Reiches an innerpolitischen und wirtschaftlichen Problemen.

Das russische Reich, war das drittgrößte Reich, was nicht bedeutete, dass es nur das drittmächtigste Reich der drei Reiche war, und kurz davor, das umkämpfte Kasachstan, sowie die Mongolei zu erobern. Die östliche Grenze wurde vor allem in letzten Jahren zwar langsam aber stetig in den Südosten verschoben. Die westliche Grenze bildete einen fast perfekter Kreisbogen von den Alpen (Italien gehörte noch zum russischen Reich) bis zum östlichsten Punkt der Ostsee. Finnland gehört auch noch zum Reich. Der Staat befand sich seit meiner Geburt und auch schon lange davor permanent im Kriegszustand und konnte stetig neuen Gebietszuwachs verzeichnen. Dies machte sich jedoch auch durch innenpolitische Versäumnisse bemerkbar. „Je besser die Generäle werden, desto schlechter werden die Politiker“, sagten die Bewohner des Reiches oft hinter vorgehaltener Hand und in abgeschlossenen Räumen.

Europa litt nach dem globalen Wirtschaftskollaps, von dem es mit Abstand am schlimmsten betroffen war und welcher schon lange vor dem dritten Weltkrieg stattfand, ständig unter politischen Stabilitätsstörungen und Konflikten. Vor dem dritten Weltkrieg war es permanent Opfer von Streitereien von Wirtschaftsmogulen, Finanzoligarchen und Unternehmensverbänden. Dadurch entwickelte es sich zunehmend zu einem plutokratischen Flickenteppich aus Herrschaftsbereichen mit massenhaften Konfliktherden zwischen den sich ständig verschiebenden imaginären Grenzen. Während der Zeit des dritten Weltkrieges war es sogar kurz sogar fast gänzlich unter der russischen Herrschaft. Nur durch massive Unterstützung der IAA während der europäischen Revolution, wodurch die Grenzen des russischen Staates deutlich zurückgedrängt wurden, und durch politische und militärische Geschicktheit der Luzifer, einem organisierten Verbund aus weltweit agierenden Oligarchen, die eine ideologische Vision verband und mit den europäischen Rebellen zusammen arbeiteten, konnten jene den Staat Hyperborea gründen. Osteuropa, das sich nach der Revolution nur noch Europa nannte, entstand unter der Verwaltungsmacht der Rebellen ebenfalls als unabhängiger Staat, konnte jedoch von den russischen Generälen im Zuge einer Massensäuberung von politischen Gegnern wieder unter Kontrolle gebracht werden und sehr schnell wieder dem russischen Reich angegliedert werden.

Hyperborea war mit Abstand die kleinste aller gegenwärtigen Nationen. Flächenmäßig und an der Bevölkerungszahl betrachtet, war es im Gegenzug zu den anderen Großreichen und der IAA zu Beginn keine Weltmacht. Auch wirtschaftlich gesehen war der Staat international anfangs eher unbedeutend, was sich jedoch mit der Zeit änderte. Er entwickelte sich unter der Schirmherrschaft der IAA besonders kulturell und wissenschaftlich weiter. Während der hyperboräische Körper, die Landmasse, verhältnismäßig klein war, war der hyperboräische Geist in Form von Kulturerzeugnissen, wie Literatur, Musik, Filmen, Cyber Entertainment und Sport auf der ganzen Welt verbreitet. Besonders die virtuelle, interaktive Unterhaltung in Intranets war beliebt, die sich aus Videospielen entwickelt hatte. Kultureller Imperialismus nannte man das. Deutlich effektiver, da er subtiler und eindringlicher ist, als militärischer Imperialismus. Diese Nation eroberte andere Länder mit Kunst, nicht mit Krieg. Dies war der Hauptgrund, warum dieser Staat so beliebt auf der ganzen Welt war und so viele Menschen wie ein Magnet anzog. Außerdem bezog der Staat seine Macht zusätzlich aus dem Wissen, das er in der Wissenschaft gewann, wo er den anderen Nationen weit voraus war und das er vor den anderen Nationen, teilweise selbst der IAA, zurückhielt, um seinen Vorteil im internationalen Konkurrenzkampf zu wahren, und gab diese nur häppchenweise preis, was sehr selten auch zu Bündnisproblemen zwischen der IAA und Hyperborea führte. Das dritte Standbein ihrer Macht war ihr wichtigstes Exportgut: das menschliche Denken. Anfangs nur bei der IAA, aber seit wenigen Jahren auch vereinzelt in Amerika und China, siedelten die Hyperboräer diverse wissenschaftliche Spezialisten an, was Hyperborea langfristigen Schutz, vor allem durch die IAA, sicherte.

Nuklearwaffen spielten schon vor langer Zeit keine Rolle mehr in der internationalen Kriegsführung, da es Militärwissenschaftlern gelang, wirkungsvolle Gegenmaßnahmen zu entwickeln, die einige ursprünglich gefährliche Nuklearwaffen, sogar gegen den Besitzer von diesen selbst richten konnten. Der Besitz solcher Waffen wäre somit für die Besitzernation fast schon bedrohlicher, als für ihren Gegner. Es wurden jedoch andere Mittel entwickelt, die deutlich gefährlicher waren als Nuklearwaffen. Nicht weil sie deren Zerstörungskraft besaßen. Die Zerstörungskraft von Nuklearwaffen war gleichzeitig ihre größte Stärke und Schwäche, da man sich vor ihr fürchtete, selbst als Besitzer von ihr. Gleichgewicht des Schreckens nannte man das während des kalten Krieges. Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter. Der kalte Krieg war lediglich eine Aneinanderreihung von Bluffs und halbherzigen Drohungen, selbst die Kubakrise war zu keinem Zeitpunkt wirklich gefährlich. Die Politiker hätten sich nie im Leben dazu überwunden, ihre über Jahrzehnte angesammelten Nuklearreserven gedankenlos zu verpulvern, um möglicherweise den Selbstmord des gesamten Staates herbeizuführen. Nicht weil sie vernünftig waren, sondern weil sie von etwas beherrscht wurden, was oftmals wesentlich mächtiger ist als Vernunft und Gewalt zusammen: die triebhafte Angst.

Die neuen Waffen waren gefährlicher, weil sie kontrollierbarer waren und gezielt einsetzbar. Der Krieg um Kommunikationssysteme und die Beherrschung der „virtuellen Welt“ gewann an Bedeutung. Das Bit gewann immer mehr Macht, während das Atom seine Relevanz verlor. Die Information wurde zur stärksten Waffe. Zahlen und Algorithmen wurden zur größten Bedrohung einer Nation. Hacker und Mathematiker wurden zu den zentralen Elementen der Militärs. Man wollte die „Seele“ des Feindes, sein zentrales Nervensystem, sabotieren, manipulieren und kontrollieren. Seine gesamte Infrastruktur lahmlegen und die Verknüpfungspunkte seines Wirtschaftssystemes, seine Versorgungsorgane, abschneiden, um ihn dann von innen heraus zu besiegen, ohne auch nur einen einzigen Soldaten aufwenden zu müssen. Zusätzlich wurde auf konventionelle Kriegsführung zurück gegriffen, da ein rein „virtueller Krieg“ natürlich ein naiver Wunschtraum war. Außerdem gab es einen zunehmenden Trend in Richtung Biowaffenforschung. Man sprach von kontrolliert fernsteuerbarer Massenvernichtung durch Krankheitserreger, deren Verbreitung je nach belieben sofort wieder gestoppt und später wieder fortgesetzt werden konnte. „Sauberer Genozid.“ Gigantische Militäranstrengungen, die keine Umweltschädigungen am verfügbaren Land zur Folge hätten und womit der Sieger das gewonnene Land sofort an sein Reich angliedern könnte.


1.5 - Himmlische Wende


1.5 – Himmlische Wende

Vor mir stand eine Kathedrale. Eine der schönsten und bekanntesten in ganz Europa. 
Laut meinem Vater zumindest. Sie war noch ziemlich gut erhalten, wenn man den Rest der Stadt betrachtete. Die Schneedecke über ihr machte sie noch schöner. Sie schien selbst in der Dunkelheit der Nacht zu leuchten. Mein Alkoholpegel, der zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich an seiner Kapazitätsgrenze war, war es vermutlich auch, der den Eindruck, den sie machte, zusätzlich verstärkte. Vielleicht waren es auch Verzweiflung und Perspektivlosigkeit, die meinen Sinnen ein Wunder vortäuschen wollten. Mein Vater liebte dieses Gebäude. Er schwärmte von der architektonischen Meisterleistung, die ihr Erbauer leistete, und die sakrale Atmosphäre, die das Gebäude im Inneren vermittelte. Er war sehr gläubig und erzog uns auch so. Der Katholizismus erlebte im letzten Jahrhundert eine Renaissance und verdrängte den Protestantismus, sowie das orthodoxe Christentum fast vollständig. Viele Menschen suchten nach dem globalen Wirtschaftskollaps neuen Halt, welchen sie im Katholizismus zu finden glaubten, was dieser Religion zusätzlichen Auftrieb gab. Das russische Reich nutzte diese erneute Popularität, erklärte eine verzerrte Version des ursprünglichen Katholizismus zur Staatsreligion und förderte die Verbreitung bis in den asiatischen Raum, nicht selten mit militärischer Gewalt, was jedoch auch schon viele früheren Unterstützer der katholischen Kirche getan hatten.

Ich beschloss meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen und ihn in dem Gebäude zu bestatten, das er am meisten liebte. Ich brachte seinen Leichnam in die Kathedrale und legte ihn auf dem Altar ab. Dann weinte Ich ein letztes mal um ihn und um meinen Bruder, der in diesem Moment ein paar Kilometer weiter zwischen allen Menschen, die mir je etwas bedeutet haben und den Todesengeln der Höllendynastie der Dessens, die das alles zu verantworten hatten, verrotten würde. Sie waren alle tot. All die Trauer, die durch das Prozium im Kampf und den vermeintlich letzten Hoffnungsschimmer, nämlich dass wenigstens mein Vater überleben würde, unterdrückt wurde, kam jetzt auf einmal in mir hoch, wie das kochende Wasser aus einem Geysir. Ich war ganz unten angelangt, nur ein Klopfen vor dem Höllentor entfernt. Betrunken, obdachlos, arm, verletzt, Vollwaise und vor allem hoffnungslos. Für das erste bist du selbst verantwortlich. Und nun stieg auch mein Hass hoch. Hass gegen alles. Gegen das Dessens-Regime, gegen ihre gefügigen Häscher, die sie durch das ganze Land schickten, gegen die Ungerechtigkeit der Welt und selbst gegen Gott, der dies alles zuließ. Meine Tränen flossen mir das Gesicht herunter und dann auf den toten Körper meines Vaters. Ich kniete vor ihm und flehte Gott an, ihn wieder lebendig zu machen. Das Innenleben der Kathedrale verstärkte die Lautstärke meines Schluchzens und Klagens um das dreifache. Erst dadurch wurde die Trauer, die ich empfand wirklich deutlich. Die Szene glich einem heidnischen Opferritual. Ich versuchte vergeblich mich an alle schönen Dinge zu erinnern, die wir erlebt hatten, während sich die ganze Umwelt, die ich wahrnahm alkoholbedingt drehte und die Verzweiflung mein ganzes Erinnerungsvermögen blockierte. Mir wurde für einen Moment schwarz vor Augen. Dann Stille. Doch ich trauerte immer noch. Nach ein paar Minuten war es vorbei, doch ich fühlte mich nicht besser.

Ich sah nach rechts und erblickte die Tür zum Raum mit dem Beichtstuhl. Ob sie unabgeschlossen ist? Nein. Sie war offen. Ich wusste nicht, warum ich hinein ging. Irgendetwas zog mich an. Es war schon Jahre her, seit meiner letzten Beichte. Wahrscheinlich war es auch schon Jahre her, seitdem dieser Beichtstuhl die letzte Beichte empfing. Wir beide waren also kompatibel. Trostlos und im Begriff zu zerfallen. Mein Vater war strikt gegen das Beichten. Wir sollten uns nicht vor einer Zwischeninstanz bekennen, keiner weltlichen Kirche, die vom Staat kontrolliert wird und zum Instrument seiner Informationsbeschaffung umfunktioniert wurde, sondern direkt vor Gott. Er verachtete den russischen Katholizismus, der nach seiner Ansicht nichts mit dem ursprünglichen Katholizismus und noch weniger mit dem Christentum zu tun hatte. Das Schuldbekenntnis sei keine Angelegenheit von Dritten. Als Kind tat ich es ein paar Mal trotzdem, nur um zu wissen wie es denn so ist. Dieses Mal war ich jedoch nicht hier, um zu beichten. Ich wusste nicht, warum ich hier war.

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.“ Die Worte hatten sich in all den Jahren in mein Bewusstsein eingebrannt. Langsam aber stetig. Sie waren abrufbar wie eine Audiodatei auf einem Computer, die man, ohne dass man sich großartig darüber Gedanken machen musste, abspielen konnte. Ich stoppte für einen Moment, um nachzudenken. Wieso bin ich in diesen Raum gegangen? Dieser Ort, der früher ein Ort der Vergebung war, war nur ein Ort der Ungerechtigkeit und der seelischen Folter. Gottes Wege sind unergründlich. Die Standardantwort jedes christlichen Fundamentalisten auf die Theodizeefrage. Ich atmete tief aus. Nebelschwaden aus Alkohol und Kälte schwebten vor meinem Gesicht. Ich zitterte. Die Wärme soll hier wohl nur durch die Religion verbreitet werden. Mein Würgereflex setzte ein. Mein Mageninhalt konnte jedoch noch zurück gehalten werden. Ich sah das Jolly-Roger-Logo vor mir, das mich mit seinen bewusstlosen Kreuzaugen, seinem skelettierten Kaninchenkopf und seinem rechten abgeknickten Ohr angrinste und mich sardonisch auslachte. Es war mehr ein schrilles Kichern, als ein höhnisches Lachen. Es kreiste um mich herum, wie ein Satellit die Erde umkreist.

Nach kurzem Überlegen sagte ich mir erhobener Stimme, wie es sonst üblich war, und nur aus Gewohnheit, um das schon begonnene Ritual zu beenden, nicht weil ich es wirklich so meinte: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille Geschehe.“ Ich stoppte erneut. „Wie sieht denn dein Reich aus? Wie lautet dein Wille?“, flüsterte ich in einem sachlichen Ton, der keinen Rückschluss auf meine innere Wut zurückließ, als würde ich tatsächlich eine Antwort erwarten, so besonnen, wie man es in meinem Zustand vorheucheln konnte, und starrte seelenlos durch das Gitter, hinter dem sich niemand verbarg. All die Jahre des Glaubens sind bedeutungslos. All die Gebete nichtig. All die ungeklärten Fragen und ihre ausweichenden Antworten substanzlos. „Und vergib uns unsere Schuld... Erlöse uns von den Bösen... In Ewigkeit. Amen.“

Als Kind machte ich mir keine Gedanken über diese Worte. Sie waren wie ein Gedicht, dass man im richtigen Moment herunterleiern musste. Eine höfliche Umgangsformel, um die Tradition zu wahren, so wie man es von den Ältesten beigebracht bekam. Nun machte ich mir Gedanken über sie. Sie waren bedeutungslos. Worthülsen. Nur das verführerische Gewand einer unsichtbaren Frau. Genau wie dieser Raum, in dem sich dieser Beichtstuhl befindet und die Kathedrale in der sich dieser Raum befindet. Ein Versprechen an die, die viel zu verlieren hatten und an die, die bereits alles verloren hatten. Menschen hofften die Worte würden wahr werden, indem sie sie nur oft genug sagen. Diese Kathedrale ist nichts weiter als der alte, schäbige, verstaubte Zylinder eines drittklassigen Magiers und wir sind nichts weiter als die unschuldigen, weißen Kaninchen, die nicht wissen, was mit ihnen geschieht.

Erneut stieg ein Schwall abgrundtiefen Hasses gegen alles in meinem Leben, was mich je vertrösten wollte, gegen alles was mir je Hoffnungen machte, gegen jede Hand die mir aufhelfen wollte, als ich am Boden lag, in mir hoch. Das Leben ist bedeutungslos. Nur ein verfaulter und von Würmern zerfressener Kadaver, der als Nährboden für Leid und Schmerz fungiert. Das Streben nach Glück ist nichts weiter als die Geisteskrankheit eines zurückgebliebenen Affen. Und die Todessehnsucht, das rationalste Gefühl, das der Mensch in seiner belanglosen Existenz je empfinden kan. Anima Vanitas. Es lebe der Tod.

Plötzlich brach ein stummes und zynisches Lachen aus meinen Lippen und explodierte im Raum. Ich spürte, wie ich bebte und wie ich langsam durch den Treibsand der vollständigen Apathie versank. Glück und Erlösung. Dinge die mir solche Zauberformeln sicher nicht geben können, da mir diese Dinge dies noch nie geben konnten. Dinge, die mir kein Glaube geben konnte. Und auch Dinge dir mir mein Wille nicht geben kann. Die Hoffnung starb an diesem Tage in mir und mit ihr auch mein Lebenswille. Mir wurde erneut schwarz vor Augen. Das Geschenk des Lebens ist nichts weiter als ein hübsch verpackter Hauch von Nichts. Zum Glück gibt es ein Rückgaberecht. Die Dunkelheit kam immer näher. Ich spürte, wie sie bereits im Stande war ihre kalten Skelletarme um mich zu legen, um mich von hinten zu umarmen. Der Abgrund reichte mir lächelnd die Hand, denn er hatte mich nun durchschaut. Er rumorte eine einladende Begrüßungshymne aus der Tiefe nach oben zu mir und bereitete bereits die Willkommenszeremonie vor. Ich nahm das Kreuz meines Bruders von meinem Hals und starrte es kurz an. Das rein geschliffene Silber, das von den Rußpartikeln der Zerstörung befleckt war. Wie es in meiner rechten Hand liegt. Mit dieser Illusion von einem Heiligenschein umgeben. Göttlich ausschauend. Chorale Klänge ausstrahlend. Nach Weihrauch duftend. Nach Hostie schmeckend. Doch es fühlte sich nicht nach Erlösung an, denn mein Gefühl war blind und taub. Alles Lügen. Betrug der Sinne. Ich wollte es in Millionen Stücke sprengen, es zu Staub verwandeln. Stattdessen warf ich es gegen den Beichtstuhl. Mein Kommentar zur stillen Abnahme meiner Beichte durch Gott. Dann blitzte eine fixe Idee durch meinen Kopf, wie der Blitz durch die Krone in einem Baum. Vielleicht sollte ich das ganze Elend beenden. Die Hölle im Jenseits kann nicht schlimmer sein, als die Hölle im Diesseits. Eine logische Erkenntnis. Eine rationale Entscheidung. Eine gute Entscheidung.

Ich nahm die Beretta-101 aus meiner Tasche und starrte die Waffe für einen Augenblick an. „Ja“, hauchte ich im Flüsterton in den leeren Raum. Es erschien mir plötzlich als eine gute Idee, die fundamentale Räumlichkeit einer gehaltlosen Ideologie, die mich mein ganzes Leben lang belogen hatte, zu meinem pompösen Sarg zu machen. Eine Blasphemie, die die lähmenden Irritationen, die ihre Versprechen verursacht hatte, in Sekundenbruchteilen durch apathische Rache vergelten würde. Ich musterte die Waffe von allen Seiten. Ich starrte in den Lauf. Dunkelheit. Der Ort, wo mich die Kugel, die aus ihr heraus rasen würde, auch hinschicken würde. 6... Ich setzte mir den Lauf an die Schläfe. 5... Ich spürte die Kälte, die seine ringförmige Beschaffenheit in mir verbreitete. Ein arktischer Schauer drang durch meine Haut. Sie neutralisierte die Wärme, die der Blutalkohol in mir verursachte. 4... Ich stellte mir vor, wie die Kugel innerhalb von Sekundenbruchteilen durch mich durch fliegen würde. Durch die Haut, durch die Schädeldecke, dann durch das Hirngewebe, dann durch das Zentrum meiner Seele, die in Millionen Splitter zerbrechen würde. 3... Schweiß brach aus meinem Körpers aus. Ich atmete erneut tief aus und spürte wie die Blässe meinen gesamten Körper durchzog. Der Würgereiz meldete sich erneut. 2... Eine absolute Entscheidung. Kein Zurück, keine Wiederkehr. Inzwischen ist der neue Tag während der Nacht angebrochen. 1... Absolute Entschlossenheit. Happy Birthday. An diesem Geburtstag werde ich etwas anderes als Kerzenlicht ausblasen. Exakt achtzehn Jahre würden durch nur eine Bewegung des linken Zeigefingers zunichte gemacht werden. Ist es das Wert? Meine Hand würde meinem Kopf die Beantwortung dieser Frage abnehmen.
Ich betätigte den Abzug:

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Ich hörte einen Schuss, der so laut war, dass ihn wahrscheinlich die ganze Welt hören würde. Die Kugel raste durch meinen Kopf. Sie beseitigte die Hindernisse bestehend aus Nervenzellen und Synapsen, wie eine massive Dampfwalze mit Überschallgeschwindigkeit die im Weg stehenden Bäume in einem dichten Wald. Das Blut spritzte durch den Raum. Meine Hirnstücke regneten zu Boden. Meine Körperfunktionen setzten aus. Ich krachte auf die nackten Fließen und meine Augen nahmen dieselbe Leere an, wie sie es auch schon bei den Toten taten, die ich ein paar Stunden zuvor massenweise gesehen hatte.

Der Tod, dem ich in letzter Zeit so häufig begegnet war, mit dem ich jedoch nie persönlich sprach, traute sich nun auch an mich heran, nachdem er seine Schüchternheit überwunden hatte, und wollte sich mit mir unterhalten. Das Gespräch war so kurz wie der kleinste Bruchteil einer Nanosekunde und so lang wie die Ewigkeit. Er führte mich in einen grenzenlosen Raum der mit reinstem Licht überflutet war. Ich schwebte in diesem Raum, sorgenlos, ziellos und körperlos. Zwischen Raum und Zeit. Zwischen Sein und Nichtsein. Zwischen Glückseligkeit und absolutistischem Rausch. Das Glück war vollkommen, das Leid ein Fremdwort einer altertümlichen Sprache aus vergangen Zeitaltern. Gott erschien und er schien. So hell wie die Sonne selbst und noch viel heller. Er reichte mir lächelnd seine Arme entgegen und begrüßte mich mit einer bebenden Stimme, die Ohnmachtsgefühle der Ehrfurcht und Bewunderung in mir auslösten. Er wurde begleitet von applaudierenden Engeln und monumentalen Chören. Alle Menschen, die ich je kennen gelernt hatte strahlten mich an, weil sie mich nach langer Zeit endlich wieder sahen. Doch Gott hatte eine schlechte Nachricht für mich und teilte sie mir mit, nachdem er mich umarmt hatte. Er stützte seine Hände an meine Schultern ab und blickte mir ernst ins Gesicht. Ich könne nicht hier bleiben, ich hatte noch etwas zu erledigen. Meine Geschichte konnte noch nicht vorbei sein. Der Held durfte nicht sterben. NOCH NICHT! Dann grelle Dunkelheit, denn meine Augenlider waren geschlossen.

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